Tote Pferde im Vertrieb
Eigentlich haben wir schon zweimal gedacht, das Thema wäre durch und das Projekt ist unterschriftsreif. Dann kommt plötzlich aus dem Fachbereich eine weitere Idee und neue Anforderungen, ein neuer Entscheidungsträger taucht auf oder der Einkauf fordert eine Ausschreibung. So oder so ähnlich – die Liste der Möglichkeiten ist sehr lang – kennen viele Vertriebler ihre leidvollen Erfahrungen im Projektgeschäft.
Hoffnung ist gut – aber nicht als Strategie im Vertrieb
Viele reagieren darauf mit … Hoffnung. Dieser eine zusätzliche Schritt noch, diese Runde nochmals mit dem Neuen. Die Ergebnisse sind selten gut. Die Hoffnung, dass nach der nächsten Aktion die Entscheidung durch ist, stirbt zuletzt.
Alltag und häufige Strategien im Projektvertrieb
Eine Entscheidung zu treffen, birgt immer Unsicherheit. Im Vertriebsalltag machen wir das häufig unbewusst. Zwei Alltags-Strategien beherrschen uns hier:
- Das haben wir schon immer so gemacht
- Der Kunde sagt, wo es lang geht
Beide Vorgehen sind gefährlich, wenn wir uns nicht explizit darüber Gedanken machen.
Best Practice
Das bewährte Vorgehen in unserem vorgedachten Vertriebsprozess mit immer ähnlichen oder sogar gleichen Schritten bringt oft viele Vorteile. Wir können unsere Erfahrung einbringen, kennen die Situation und können unsere und die Ressourcen des Kunden optimal nutzen. Wenn alles Ok ist.
Je mehr wir uns auf unser best practice Vorgehen verlassen, desto weniger achten wir auf Warnzeichen. Eine Entscheiderin, die dann doch nicht beim Meeting dabei ist. Eine Verzögerung aus unbekannten Gründen. Ein Berater, der sich plötzlich einbringen darf. Und so weiter. Dies wäre der Punkt, sofort zu stoppen und das bisher geplante Vorgehen bewusst zu hinterfragen.
Kunden-Führung
Die Vorgehensweise kommt von Kundenseite. Sie geben die Schritte und Kriterien klar vor (typisch: Ausschreibung). Am Beginn ist das oft völlig in Ordnung und nachvollziehbar. Kunden führen ihren Auswahlprozess nun mal gerne selbst. Oft markieren wir das sogar positiv als Beleg für:
- Der Kunde hat ein Projekt und
- wir sind ernsthaft dabei.
Zwei Aspekte können schnell kritisch werden.
1. Es ist ein Selektionsprozess.
Nüchtern betrachtet schränkt der Kunde also die Menge der Anbieter auf eine möglichst kleine Zahl ein, um nachfolgend mit möglichst wenig Ressourceneinsatz die beste Entscheidung herbeizuführen. Wenn wir dies nicht absolut bewusst und zum richtigen (frühen) Zeitpunkt analysieren, dann verlassen wir uns zu lange darauf, ernsthaft im Spiel zu sein. Genau dieses Vorgehen entspricht – wieder nüchtern betrachtet – unserem Selektionsprozess: wir fokussieren uns auf die (möglichst kleine) Menge an Verkaufschancen, bei denen wir wirklich im Spiel sind.
2. Der Kunde forciert den Prozess aus seiner Sicht und Erfahrung.
Im Normalfall besitzen wir als Anbieter breitere oder spezifischere Erfahrung im Thema. Oft haben wir gute Ideen für alternative Aktionen oder Einbezug anderer Lösungsaspekte, die sogar dem Ziel des Kunden noch zuträglicher wären. Allzu oft fügen wir uns in der Praxis dem Kundenvorgehen und widersprechen nicht ausreichend. Der Hauptgrund hierfür sitzt bei den Vertrieblern, und sehr tief: die Angst vor Ablehnung. Die Angst ein Nein zu kassieren.
Warum es so schwer ist
Zurück zum toten Pferd. Das Prinzip Hoffnung dominiert dann, wenn uns die Klarheit fehlt. Dann vernebelt uns Hoffnung eben den klaren Blick auf die wirkliche Kundensituation.
Wenn sich Anzeichen mehren, dass etwas nicht 100%ig passt, müssen wir abwägen: Den eingeschlagenen Pfad verlassen und keine weiteren Ressourcen und Energie in das Projekt investieren oder die Kröte schlucken und nach Kundenwunsch den weiteren Schritt gehen.
Systematische Denkverzerrung: Versenkte Kosten
Diese rationale Abwägung geschieht, wie in Entscheidungssituationen gegeben, immer unter Unsicherheit.
Die so genannte »sunk cost fallacy« schnappt dann zu, wenn wir schon viel Zeit, Geld und Energie aufgewendet haben. Je mehr wir schon in ein Projekt investiert haben, desto höher ist der Drang, das Projekt weiterzuführen, auch wenn es objektiv betrachtet keinen Sinn ergibt.
Tatsächlich ist es im Kern irrational, die investierten Ressourcen der Vergangenheit zu berücksichtigen. Die rationale Abwägung sollte einzig und allein die jetzige Situation bewerten, um daraus die zukünftigen Chancen einzuschätzen.
Daneben steht uns grundsätzlich noch ein typisch menschliches Verhalten im Weg, frühzeitig ein Nein zu setzen. Wir alle wollen glaubwürdig sein. Dieser psychologische Aspekt führt zu möglichst konsistentem Verhalten. Eine ursprünglich getroffene Entscheidung zu revidieren bedeutet, einen Widerspruch zu erzeugen. Dagegen wehren wir uns intuitiv so lange wie möglich.
Wie kann es (besser) gehen
Bei den üblichen lustigen Ansätzen zum Thema tote Pferde lächeln wir ja gerne milde: Reiter wechseln, anderer Sattel, neue Bewertung usw.
Im Lösungs- und Projektvertrieb kann es durchaus komplex sein, tote Pferde zu händeln. Die gute Nachricht ist: es gibt bewährte Techniken, die hier größtenteils funktionieren. Die schlechte Nachricht: es braucht ein wenig Mut und Standhaftigkeit.
Im Sinne der Vertriebseffizienz muss quasi die eine Strategie im Vordergrund stehen: Tote Pferde systematisch früh erkennen und unwirksame Aktionen verhindern.
Das kleine Attribut systematisch macht es aus. Mit Methodik entkommen wir am ehesten den Denkfehlern, falschen Annahmen oder im Vertriebsalltag schnell forcierten Aktionen.
Im Übrigen fühlt sich diese Strategie für manchen vielleicht etwas egoistisch oder zu Business-bezogen an. Nein – auch aus zwischenmenschlichen Aspekten halte ich dieses Vorgehen für richtig: Wenn wir uns vorher intensiv mit der Kundensituation beschäftigen und ernsthaft interessieren, dann liefern wir schon ganz viel. Dann haben wir, zumindest wenn eine partnerschaftliche Ebene angestrebt ist, immer das Recht auch etwas einzufordern. Wenn wir dann wenig ergebnisfördernde oder unsinnige Aktionen verhindern, schützen wir auch die Ressourcen des Kunden.
1. Systematisch: Qualifizieren
Bewusstes und systematisches Qualifizieren ist eine der besten Maßnahmen gegen Missverständnisse und falsche Annahmen. Mehr noch – es ist im Kern auch eine vertrauensbildende Vorgehensweise.
Komplexe Verkaufschancen und Projektkonstellationen können wir nur sinnvoll behandeln und gute Antworten liefern, wenn wir Hintergründe oder „Insights“ kennen und verstehen. Das heißt die Fragen, welche alle Vertriebler stellen (WAS? WIE? WANN? WER?) reichen nicht aus.
Ob es die frühe Frage nach dem WARUM ist oder die Implikationsfragen nach dem WAS, WENN …? bzw. WAS, WENN … NICHT? – erst hier können wir oft mit individuellen Lösungsansätzen oder ganz banal der spezifischen Übersetzung unserer Lösung in die Welt des Kunden die Entscheider und Beeinflusser wirklich abholen.
Wissen ist Macht
Zwei Tipps noch: Aus der Trainings-Praxis mit vielen Vertriebs-Mitarbeitenden haben wir oft gutes, intensives Qualifizieren gesehen. Leider weist solchermaßen gutes Vorgehen oftmals zwei Defizite aus: es erfolgt intuitiv und nur durch die individuelle Erfahrung des jeweiligen z. B. Account Managers und – es erfolgt zu spät wirklich umfassend. Die z. B. Account-Managerin gibt sich am Beginn mit einfachen Informationen zufrieden und geht zu spät erst in die Tiefe.
Tipp Nr. 1: Frühzeitig aktiv qualifizieren
… und damit eine Information mehr vom Kunden oder der Ansprechpartnerin kennen als die anderen.
Tipp Nr. 2: Methodisch qualifizieren
… sodass alle im Team daraus dasselbe Verständnis gewinnen und partizipieren.
Genau hieraus gewinnen wir unser Wissen, auf dessen Basis wir eine Bewertung realisieren können. Keine Annahmen, keine Vermutungen.
Wissen ist immer ein machtvolles Instrument.
2. Immer: Vogelperspektive
So einfach kann es manchmal sein. Wenn wir durch die Brille des Kunden oder (spezifisch) der Entscheiderin blicken, wird uns die Situation oft transparent. Das ist also nichts anderes als von oben aus der Vogelperspektive (Meta-Ebene) draufzuschauen.
Zum Beispiel: Wir stehen mit dem Kunden vor dem nächsten wesentlichen Schritt. Er hat uns beschrieben, wie wichtig die nächste Maßnahme, beispielsweise eine Konzeptvorstellung oder eine Lösungspräsentation in Workshop-Atmosphäre, für ihn sei.
Fragen aus der Vogelperspektive:
- Wenn das wirklich so ist: Warum kommt dann die Entscheiderin [XY] nicht mit dazu?
- Wenn es der Kunde wirklich ernst meint, mit dem nächsten Schritt vorwärts zu kommen: Warum kann bzw. will er uns kein Commitment geben, bei erfolgreichem Erreichen eine passende weitere Aktion zu planen.
3. Früh: Drivers’s Seat
Im Vertriebsprozess Führung zu übernehmen, braucht als Voraussetzung
- Vertrauen des Kunden in uns bzw. in mich
- den Anspruch und damit das Vorgehen, dies zu erreichen.
Keineswegs ist damit gemeint, den Kunden zu bevormunden. Vielmehr denken wir für den Kunden den Vertriebsprozess voraus.
Bad news early is good news. Oder: Suche früh nach dem „Nein“
Ein alter Grundsatz im Projektvertrieb heißt: Suche früh nach dem „Nein“.
Mit dem Vorgehen, Führung zu übernehmen forcieren wir manchmal das „Nein“, welches uns klarmacht, dass hier etwas nicht stimmt. Auch frühes und methodisches Qualifizieren zahlt genau hierauf ein. Je früher wir verstehen, ob es ein unüberwindbares Hindernis oder einen Gegner gibt, desto besser. Ein „Nein“ heißt natürlich nicht immer, dass wir draußen sind, klar. Ein „Nein“ kann einfach nur bedeuten: Hier fehlt auf Seiten des Kunden noch Zeit oder andere Ressourcen. Auch dann lohnt es sich nicht, einfach weiterzumachen.
Um zu unserem modernen Bild des toten Pferdes zurückzukehren: Lohnt es sich noch, denn Rennwagen wieder und wieder zu polieren? Ist er überhaupt noch fahrtüchtig? Das gilt es laufend zu prüfen. Und gerade weil wir den Wagen so liebgewonnen haben, lassen wir uns vom Hochglanz gerne blenden.
Niemand würde wohl seinen Wagen noch einmal waschen und auf Hochglanz polieren, bevor er ihn zum Schrottplatz bringt. Richtig? Warum investieren wir also in Opportunities, die offensichtlich „tot“ sind noch unsere wertvolle Energie. Wohl nur, um kurzfristig ein gutes Bild abzugeben. Und: die Hoffnung stirbt zuletzt.
Effektiver ist es doch, den Status aktiv und bewusst zu prüfen.
Valide Methoden dazu gibt es. Konkrete Techniken unterstützen Sie dabei, einen Totalschaden systematisch früh zu erkennen, und unwirksame Aktionen zu verhindern. Sehr häufig ist das der größte Hebel, den wir in Richtung Effizienzsteigerung ansetzen können.
Also: Polieren Sie nur die Wagen, mit denen Sie wirklich vorwärts kommen. Das macht nämlich Freude.
Kernaussagen
- Den Begriff des Toten Pferdes kennt im Vertrieb jeder. Dennoch fällt es vielen schwer, damit umzugehen und auch einmal „Nein“ zu sagen oder eine Opportunity zu canceln. Dabei ist dies in bestimmten Fällen sinnvoll.
- Bewährtes Vorgehen bringt Vorteile – birgt aber auch die Gefahr, nicht auf die projektspezifische Situation zu achten und zu lange nicht die Signale zu bemerken, dass eine Opportunity nicht erfolgversprechend ist.
- Hoffnung ist keine Strategie im Vertrieb. Stattdessen ist es zielführend, Tote Pferde systematisch früh zu erkennen und unwirksame Aktionen vermeiden.
- Oftmals werden (auch unterbewusst) alle bisherigen Investitionen in die Projekt-Bewertung einbezogen. Für eine rationale Bewertung der Verkaufschance ist jedoch nur die jetzige Situation relevant.
- Wissen ist Macht. Zu mehr Informationen gelangen Sie, indem Sie frühzeitig aktiv und mit Methode qualifizieren.